Asyl-Vagabunden
Italien überlässt Flüchtlinge weitgehend sich selbstVon Stefania Summermatter, swissinfo.ch
Mailand
16. April 2013 - 10:59
Jedes Jahr kommen Tausende Flüchtlinge aus Italien in die Schweiz. Hauptgrund: Ein Mangel an Unterkünften und Arbeit sowie fehlende Integrationsmassnahmen in Italien. Doch die meisten dieser Flüchtlinge müssen in der Schweiz mit einer Rückweisung rechnen. Ein Augenschein in Mailands Flüchtlingszentren.
Prekäre Verhältnisse
Wir treffen Vivian im Frauenzentrum von Mailand in der Via Sammartini, unweit des Hauptbahnhofs Milano Centrale. Hier leben rund 30 Frauen und ebenso viele Kinder. Die meisten sind Flüchtlinge. Dazu kommen noch einige Asylbewerber, die maximal 10 Monate bleiben dürfen.
"Flüchtlinge haben kein Recht auf ein Existenzminimum; sie finden keine Arbeit und keine Wohnung. Häufig leben sie in äusserst prekären Verhältnissen und sind auf die Unterstützung von Hilfs- und Migrantenorganisationen angewiesen. Die Zentren können meistens nicht mehr leisten, als diesen Menschen ein Dach über dem Kopf zu geben.
Jeden Monat kommen Tausende in Italien an", sagt Don Roberto Davanzo. Er ist Direktor der Caritas Ambrosiana von Mailand, welche die Aufnahmezentren in der Lombardei im Auftrag der Gemeinden führt.
Im Jahr 2011 gab es in Italien gemäss dem UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) 34‘120 Asylgesuche; im Jahr 2012 waren es noch 15‘170.
Dazu kommen gemäss Schätzungen der UNO weitere 58‘000 politische Flüchtlinge. Die nationalen Empfangszentren für Flüchtlinge verfügen aber nur über rund 10‘000 Plätze. Auch die regionalen Zentren vermögen die Lücke nicht zu schliessen. Daher gibt es Wartelisten. In Mailand warten allein 40 Mütter und Kinder auf einen Platz im Zentrum an der Via Sammartino.
Italien gehört zu den wenigen europäischen Ländern, die über kein nationales Asylgesetz verfügen. Es gibt einzig eine Reihe von Regierungsdekreten, welche das Flüchtlingswesen regeln. Dabei ist Italien wegen des Dublin-Abkommens besonders exponiert. "Das System ist zersplittert und schafft grosse Ungleichheiten zwischen den Regionen", sagt Beat Schuler, Jurist beim UNHCR in Rom, auf Anfrage am Telefon.Nicht einmal die Hälfte (2‘981) ist effektiv nach Italien zurückgeschafft worden. Gemäss dem Bundesamt für Migration (BfM) gibt es dafür viele Gründe: Gesundheitsprobleme, ausstehende Rekurse, ein Abtauchen in die Illegalität oder eine Flucht ins Ausland. Einige Asylbewerber wehren sich zudem gegen eine Rückschaffung; häufig vergehen Monate, bis für sie ein "Sonderflug" organisiert ist.
Wenn die abgewiesenen Asylbewerber in Mailand oder Rom landen, den beiden Rückaufnahme-Flughäfen gemäss dem Dublin-Abkommen, werden sie nicht umgehend in ein italienisches Flüchtlingszentrum gebracht, wie man meinen könnte. "Sie werden als freie Bürger angesehen", sagt Don Roberto Davanzo. Sie haben einige Zeit, um sich bei der Polizei zu melden und wieder in das Asylverfahren einzusteigen.
"Soweit wir wissen, gibt es aber einige, die sich gleich wieder auf den Weg in Richtung Schweiz oder Deutschland machen. Kann man es Ihnen übel nehmen?", fragt Don Roberto Davanzo.
Ende Februar hatte die italienische Regierung beschlossen, die so genannten Sonderzentren "Notsituation Nord-Afrika" zu schliessen. Diese Zentren haben seit 2011 rund 28‘000 Flüchtlinge aufgenommen. Die Flüchtlinge wurden dort untergebracht, ohne jede Integrationsmassnahme. Nachdem die Krise für "beendet" erklärt wurde, hat Italien 13‘000 Personen einfach vor die Tür gesetzt, ausgestattet mit 500 Euro und einem dreimonatigen Reisevisum. Wo werden diese Flüchtlinge unterkommen? Die italienischen NGO befürchten, dass viele als Obdachlose auf der Strasse landen werden. Auch auf die Schweiz könnte möglicherweise eine neue Flüchtlings-Welle zukommen, auch wenn das Bundesamt für Migration unterstreicht, bisher keine Veränderungen beim Fluss der Migranten festgestellt zu haben.
http://www.swissinfo.ch/ger/politik_sch ... d=35505756