Ein Zeit - Redakteur hat zusammen mit einer Schauspielerin ein obdachloses Paar im reichsten Stadtviertel Deutschlands gemimt:
SOZIALE KLUFT
Maria und Josef im Ghetto des Geldes
Die wohlhabendsten Deutschen mit den teuersten Häusern leben im Taunus bei Frankfurt: Banker, Manager, Industrielle. Was passiert, wenn man sie um Hilfe bittet? Die Schauspielerin Viola Heeß und unser Redakteur Henning Sußebach haben sich – als obdachloses Paar verkleidet – kurz vor Weihnachten auf den Weg gemacht.
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Im tauglänzenden Victoriapark begegnen wir einer Frau und ihrer kleinen Tochter. Das Mädchen schaut uns an und ruft: »Mama! Da sind wieder die faulen Feiglinge.«
Das arme Kind. Ob seine Eltern die Meldung zur Kenntnis genommen haben, dass die Lebenserwartung deutscher Geringverdiener mittlerweile sinkt? Wird es von ihnen je erfahren, dass es größere Katastrophen gibt als einen Absturz des Dax? Wird es sich je darüber wundern, dass in Deutschland die reichsten zehn Prozent mehr als 60 Prozent allen Vermögens besitzen, die ärmsten 50 Prozent aber nur zwei?
Womöglich ist dem Mädchen gerade eine Kronberger Lebenslogik rausgerutscht: Wem es schlechter geht als einem selbst, der ist faul, feige oder sonst wie ein Versager. Von ganz oben betrachtet, muss die Welt dann von lauter Nichtsnutzen bevölkert sein.
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Bis in den Abend sind uns Menschen und Häuser verschlossen. Bleibt bloß der Pfarrer.
Das Pfarrhaus der evangelischen Kirche sieht aus wie aus einem Adventskalender in die Wirklichkeit kopiert: Holztür, Veranda, Weihnachtsbaum.
Wieder Klingeln, wieder Warten, wieder ein blechernes »Ja!?« aus einem Lautsprecher.
»Wir haben eine Bitte.«
Nach einer Weile öffnet sich die Tür, im hellen Spalt eine schwarze Silhouette. Der Pfarrer.
»Wir sind ohne Obdach und wollten fragen, wo man hier schlafen kann.«
»Meines Wissens gibt es hier nichts.«
»Dürfen wir nicht bei Ihnen übernachten?«
»Nein. Wir haben uns darauf verständigt, dass das nicht geht.«
»Aber Sie sind doch die Kirche.«
Mit diesem Satz ist unsere Verlegenheit zu ihm gewechselt. »Trotzdem«, sagt er.
»Wir haben auch Schlafsäcke dabei.«
»Nein. Und mit Verlaub: So etwas ist hier noch nie vorgekommen.«
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An den Hängen des Taunus bestätigt sich eine Studie des amerikanischen Psychologen Dacher Keltner. Keltner ist Professor an der University of California und hat kürzlich behauptet, vermögende Menschen seien weniger mitfühlend als ärmere. Bevor er mit seinen eigenen Untersuchungen begann, hatte er Material gesichtet: In einer Umfrage amerikanischer Wohlfahrtsverbände gaben Haushalte mit einem Jahreseinkommen von weniger als 25.000 Dollar an, 4,2 Prozent ihrer Einnahmen zu spenden. Haushalte mit mehr als 100.000 Dollar gaben nur 2,7 Prozent weiter. Wohltätigkeitsforscher aus San Francisco werteten Steuererklärungen von unter 35-Jährigen aus und fanden heraus: Jene mit einem Jahreseinkommen von weniger als 200.000 Dollar spendeten 1,9 Prozent – wer mehr verdiente, nur noch ein halbes Prozent.
Anfangs dachte Keltner, ärmere Menschen seien womöglich religiöser oder politisch eher links. Doch dann kam er zu dem Schluss, dass Arme einfach öfter die Erfahrung machten, dass man »sich gegenseitig helfen« müsse: »Es gibt immer einen, der dich irgendwohin mitnimmt oder auf dein Kind aufpasst.« Genau das befähige sie, die Nöte anderer überhaupt wahrzunehmen. In Keltners Studien erkannten jene Testpersonen, die nur einen Highschool-Abschluss hatten, die Gefühle anderer besser als Höhergebildete und Besserverdienende. Wenn Keltner zwei Probanden zum Kennenlernen zusammenbrachte, konnte er sogar beobachten, wie die aus besseren Verhältnissen eher mit irgendetwas herumspielten, nebenbei kritzelten oder ihre Handys nach Nachrichten durchsuchten. »Dass die Reichen etwas zurückgeben, ist psychologisch unwahrscheinlich«, sagt Keltner. »Was Reichtum und Bildung und Prestige und eine gute Position im Leben einem geben, ist die Freiheit, sich auf sich selbst zu konzentrieren.«
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Wir waren nicht so naiv, zu glauben, dass uns irgendein Vorstandsvorsitzender sein Kingsize-Bett aufschüttelte. Wir wären ein scheinheiliges Paar, wenn wir uns ein einfaches Urteil anmaßen würden über die Tatsache, wieder und wieder abgewiesen worden zu sein. Aber über den Ton, in dem das meistens geschah? Und über dieses verbissene Schweigen?
Dieses Wandlitz des Westens, es kommt ohne Zäune und Schlagbäume aus. Es riegelt sich ab mit Ignoranz. Souveräner kriegt man Abschottung nicht hin.
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http://www.zeit.de/2011/52/DOS-Maria-und-Josef/seite-5Ein Wandlitz des Westens also - das passt zu den jüngsten Presseberichten über die unglaubliche Dickfelligkeit der Vorstände und leitenden Angestellten der Deutschen Bank im Vorfeld der Durchsuchung der Zentrale in Frankfurt und dem nachfolgenden Telefonanruf beim hessischen Ministerpräsidenten. Da macht sich eine neue Art sozialer Autismus breit, diese Leute entfremden sich der Realität der bundesdeutschen Gesellschaft. Die sind früher im Feudalismus angekommen als der Rest des Landes. Das rächt sich natürlich. Noch haben sie nicht effektiv und in jeder Hinsicht die Macht früherer Feudalherren.