ZEIT ONLINE - "Verlauf der Corona-Pandemie: Das Virus ist noch lange nicht besiegt""Im Kampf gegen das Virus ist Deutschland auf einem guten Weg.
Aber es wäre gefährlich, sich darauf auszuruhen. Auch nach dem Sommer wird die Pandemie nicht vorbei sein.[...]
Bislang war die deutsche Strategie, das Coronavirus zu bekämpfen, tatsächlich ziemlich erfolgreich. Die sinkenden Zahlen an Neuinfektionen gaben Grund zur Hoffnung.
Um diese Erfolge nicht zu gefährden hatten Wissenschaftler in letzter Zeit allerdings immer lauter davor gewarnt, zu früh zu viel zu lockern. Erst vergangene Woche hatten sich die vier größten deutschen Forschungsorganisationen dafür ausgesprochen, die Zahl der Neuinfektionen soweit zu drücken, bis einzelne Kontakte nachverfolgt werden können.Das ist umso schwieriger, je mehr Menschen sich pro Tag mit Sars-CoV-2 anstecken. Hatte das Robert Koch-Institut am Dienstag, den 5. Mai, noch 685 Neuinfektionen gemeldet, waren es am Mittwoch knapp 950 und am Donnerstag und Freitag jeweils mehr als 1.200. Der Modellierer Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung hofft, dass es sich dabei nur um eine Schwankung handelt. Auch der Meldeverzug spielt bei diesen Zahlen eine Rolle. Der zeitliche Abstand korreliere allerdings mit der vorangegangenen, bisher größten Lockerung, den Ladenöffnungen vom 20. April. "Leider muss ich sagen, dass das zusammenhängen könnte, ohne es aber beweisen zu können", sagt Meyer-Hermann.
Hat die Politik zu früh aufgemacht?Die Entscheidung vom 6. Mai, weiter zu lockern, sei nach Meinung des Modellierers zu früh gekommen. Nämlich zu einem Zeitpunkt, als noch niemand die Effekte der Ladenöffnungen abschätzen konnte. "Dafür hätte man mindestens noch bis zum Ende der Woche warten müssen." Zusätzlich habe man mit der geplanten Öffnung der Schulen ein ganz neues Fass aufgemacht. "Wir wissen einfach nicht, wo die gefährlichste Stellschraube ist", sagt Meyer-Hermann. "Wir spielen bei den Schulen mit einem hohen Risiko."
Um einschätzen zu können, welche Lockerungen welche Effekte haben, brauchen Modellierer und Epidemiologen möglichst stabile Bedingungen. Zum Beispiel dürfe man eigentlich zwei Wochen lang immer nur eine Maßnahme zur gleichen Zeit lockern, sagt Jürgen May, Leiter der Abteilung Infektionsepidemiologie am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg. Aber in den vergangenen Wochen hat die Politik mehrere Beschränkungen in kurzen Abständen gelockert, mit dem Höhepunkt am 6. Mai.
Zusätzlich haben die Menschen während der vergangenen Wochen und Monate ihr Verhalten mehrfach verändert. Zu Anfang der Epidemie dürften viele erst einmal vorsichtiger geworden sein. Das scheint nun nicht mehr so sehr der Fall zu sein. Längst sind manche wieder stärker unterwegs und haben sich hier und da mit Freunden getroffen, obwohl das mit mehr als einer Person weiterhin verboten war. Außerdem haben sich auch noch die Wetterbedingungen geändert. "Wie soll man auf dieser Basis wirklich voraussagen können, wie sich der Ausbruch entwickelt?", fragt May.
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Wie geht es im Sommer weiter?Selbst wenn es gelingen sollte, die Zahl der Neuinfektionen über die nächsten Wochen zu kontrollieren, sind längerfristige Prognosen schwierig. "Wir wissen einfach zu vieles über das Virus noch nicht", sagt Michael Meyer-Hermann. Eine der wichtigsten offenen Fragen ist derzeit die der Saisonalität: Wie genau sich höhere Temperaturen, größere Luftfeuchtigkeit und mehr Sonneneinstrahlung auf die Verbreitung von Sars-CoV-2 auswirken, ist noch nicht klar.
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Dass sich manche Viren im Sommer tatsächlich schlechter übertragen, ist zum Beispiel für die Influenza bekannt (PLoS Biology: Shaman et al., 2010*). Einen ähnlichen Effekt erwarten die meisten Forscherinnen und Forscher auch für Sars-CoV-2. "Wir schätzen, dass die Übertragbarkeit im Sommer vielleicht um 20 Prozent abnimmt", sagte der Harvard-Epidemiologe Marc Lipsitch dem Branchendienst Stat. Mit seinem Team hat er Ausbruchsszenarien auf Basis von Erkältungs-Coronaviren modelliert (Science: Kissler et al., 2020**). Wenn Sars-CoV-2 den anderen vier menschlichen Coronaviren ähnelt, die Erkältungen verursachen, reiche das aber nicht aus, um es zu stoppen, sondern nur, um es zu verlangsamen, sagt Lipsitch.
Keine Immunität im HerbstSelbst wenn passiert, was viele hoffen dürften, wenn also die Infektionszahlen trotz der Lockerungen weiter zurückgehen und über den Sommer niedrig bleiben: Wir wären das Virus höchstwahrscheinlich selbst dann nicht los.
Zwar könnte es bald so scheinen, als sei der Erreger verschwunden – aber so wird es nicht sein: "Kleine Infektionsketten wird es trotzdem geben, und viele davon dürften unbemerkt verlaufen", sagt May. Sie könnten sich verstärken, wenn im Herbst die Temperaturen sinken und Menschen wieder mehr Zeit in schlecht belüfteten und geschlossenen Räumen verbringen. Dann wird das Virus auf eine hohe Zahl von Menschen treffen, die noch nicht immun sind. "Wir werden es nach dem Sommer nicht hinter uns haben, das können wir mit großer Sicherheit sagen." [...]
Der größte Fehler wäre es aber, den Schutzschild zu sehr herunterzunehmen, sich nicht mehr an Abstandsregelungen und Hygiene zu halten, während eine neue, vielleicht größere Welle schon Kraft sammelt. [...]
Außerdem weiß niemand, was passiert, wenn das Virus mutiert und damit vielleicht ansteckender wird. Vor Kurzem gab es Meldungen dieser Art auf Basis von noch nicht von Experten begutachteten Studien (BioRxiv: Korber et al., 2020). Aber ob das wirklich schon geschehen ist, lässt sich derzeit noch nicht sagen.
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Ausführlich dazu die Quelle:https://www.msn.com/de-de/nachrichten/c ... 6Q9#page=2Hier finden Sie die Studien zum Artikel:*
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/201 ... t=Abstract**
https://science.sciencemag.org/content/ ... ce.abb5793Kommentar
Zweifellos einer der besten Artikel der letzten Zeit. Sowohl die aktuelle Situation als auch mögliche Verläufe der Pandemie/Epidemie wurden sachgerecht zutreffend und realistisch dargestellt.
Das ist journalistische Qualität, wie man sie leider nicht allzu häufig findet, zumindest nicht häufig genug.