ZEIT ONLINE - "Corona-Lockerungen: Ist das jetzt der klügste Ausweg?""Vieles bleibt, wie es ist. Die beschlossenen schrittweisen Lockerungen werden das Corona-Ausbruchsgeschehen nicht aufhalten. Sie sind ein Weg, mit der Seuche zu leben. Getroffen wurden sie, um eine Wirtschaftskrise und soziale Folgen der Pandemie abzuschwächen.
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Es gilt weiterhin ein Kontaktverbot bis zum 3. Mai. Enkel dürfen Großeltern nicht besuchen, Partner und Geschwister sich nicht treffen: Es sei denn, sie leben im selben Haushalt. Auf der Straße gilt weiterhin ein Mindestabstand von 1,5 Metern. Gruppenbildung verboten. Mit maximal einem Menschen, mit dem man nicht zusammenwohnt, darf man draußen unterwegs sein. Auf Abstand natürlich.Aus Sicht von Infektionsforschern ist das sinnvoll: Denn das Social Distancing wirkt. Eine Modellrechnung des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation kommt zu dem Ergebnis, dass die Zahl der Corona-Fälle seit Beginn der Einschränkungen langsamer wächst. "Wir sehen eine klare Wirkung der Kontaktsperre vom 22. März, und natürlich den Beitrag von jeder einzelnen Person", sagte Viola Priesemann, die am Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation eine Forschungsgruppe leitet, [...].
Warum keine Sonderregelung für Alte und Vorerkrankte?Unterschiedliche Regelungen für Risikogruppen sind derzeit nicht geplant. Zwar sollen diejenigen, die anfälliger sind, besonderen Schutz bekommen. Sozial soll aber niemand ausgeschlossen werden – auch wenn das theoretisch schwere Corona-Verläufe verhindern könnte, etwa im Fall aller Menschen ab 65 Jahren: Denn sie sind statistisch stärker gefährdet, an Covid-19 zu sterben. Für Alten- und Pflegeheime sollen strenge Beschränkungen gelten und über die konkrete Ausgestaltung soll jeweils nach "lokalen Gegebenheiten" entschieden werden. Ansonsten hält man die Bevölkerung dazu an, selbst Abstand zu halten und weiterhin generell auf private Reisen und Besuche von Verwandten zu verzichten.
Warum dürfen Friseure wieder öffnen?Diese Frage ist aus Sicht der Forschung schwer zu beantworten. Sicherlich ließen sich mit Visor, Maske und Handschuhen Haare schneiden. Kundinnen könnten Masken tragen, kontaktlos zahlen und der Friseur nach jedem Besuch Schnittplatz und Becken desinfizieren sowie den gesamten Salon durchlüften.
Doch ein Risiko bleibt: Auf engem Raum bei meist stehender Luft ist das Ansteckungsrisiko hoch (medRxiv: Chia et al., 2020).
Der Krankenhaushygieniker Andreas Podbielski, Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie, Virologie und Hygiene an der Uniklinik Rostock, sagt,
Lüften sei wichtig. Er weist aber auch darauf hin, dass das in Friseursalons, genauso wie in Restaurants oder Bars, nur eingeschränkt möglich ist. "Selbst wenn ein Laden oder ein Salon eine Lüftung hat, ist diese sicher nicht – wie im OP-Saal – vorrangig dafür konzipiert, Krankheitserreger aus der Luft zu entfernen." Übertragungen werden sich also nicht ganz verhindern lassen – vor allem nicht beim Haareschneiden, das eben nicht aus 1,5 Metern Abstand machbar ist. Dass diese Geschäfte als erste wieder öffnen dürfen, ist also vor allem der Versuch, Masseninsolvenzen und Arbeitslosigkeit abzuwenden – und die Bedürfnisse der Bevölkerung zu decken, die zunehmend ungeduldig wird.
Kleine Läden auf, große zu. Ist das klug?Ab Montag dürfen Geschäfte mit bis zu 800 Quadratmetern Verkaufsfläche wieder öffnen, also solche, die etwa so groß sind wie ein kleiner Supermarkt. Die Voraussetzung: strenge Hygienemaßnahmen. Desinfektionsmittel müssen vorhanden sein, langes Schlangestehen verhindert und Abstand gehalten werden. [...]
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Kanzlerin Angela Merkel erklärte dazu: Es gehe nicht darum, dass größere Geschäfte kein ausreichendes Schutzkonzept erstellen könnten. Söder gab nur zu bedenken, es dauerte vielleicht etwas länger. Der Politik aber geht es im Kern um etwas anderes: Man will erreichen, dass sich Innenstädte, Busse und Bahnen erst nach und nach wieder füllen. Shoppingmalls und große Läden bleiben deshalb noch geschlossen.
Mehr Platz, mehr Abstand möglich – oder nicht?In großen Läden sei die Ansteckungsgefahr wahrscheinlich sogar geringer, sagt Krankenhaushygieniker Podbielski. Sie hätten "mehr Platz und mehr Luftraum zur Verfügung – häufig sogar eine professionelle Lüftung". Ein Punkt, der den Unterschied machen könnte zwischen Übertragung und Nicht-Infektion.
Die Ansteckungsgefahr ist am höchsten, wenn sich Menschen über längere Zeit in geringem Abstand zueinander aufhalten und dabei miteinander sprechen. Simulationen zeigen, dass die Tröpfchen, die beim Sprechen, Husten oder Niesen entweichen, größtenteils innerhalb von zwei Metern zu Boden fallen. Eine US-Forscherin vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) stellte allerdings fest, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass sich kleinere Tröpfchen – Aerosole genannt – über die Luft weiter ausbreiten (Jama: Bourouib, 2020): beim Husten fast fünf Meter, beim Niesen sogar fast acht Meter weit.
Auch beim Sprechen und Atmen werden Aerosole frei: je länger das Gespräch, desto mehr. In geschlossenen, schlecht belüfteten Räumen verteilen sie sich und werden etwa mit der Klimaanlagenluft vermischt (Journal of Fluid Mechanics: Bourouiba et al., 2014).[...]
Anfang April berichteten Forschende aus Hongkong (Nature Medicine: Leung et al., 2020), dass OP-Masken Krankheitserreger daran hindern können, sich über Tröpfchen in der Umgebung zu verteilen. In der Studie gibt es zwar nicht konkret um Sars-CoV-2, aber um andere Coronaviren und auch Influenzaviren. Die kleineren Aerosole könnten sich trotz Mund-Nase-Schutz in der Luft ausbreiten. Sie spielen bei der Übertragung zwar eine Rolle – so der aktuelle Wissensstand –, aber eine geringere als größere Tropfen. Auch ein Expertengremium der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina empfiehlt deshalb den Nase-Mund-Schutz – vor allem, weil "sich eine große Zahl unerkannt Erkrankter ohne Symptome im öffentlichen Raum bewegt".
Den Träger selbst schützt so eine Maske nicht sicher vor Sars-CoV-2. Das heißt aber nicht, dass er gar nichts ausrichtet. Die wenigen Studien, die es dazu gibt, bescheinigen den OP-Masken zwar nur eine geringe Wirksamkeit, eine Ansteckung zu verhindern (Journal of the Royal Society Interface: Lai, Poon, Cheung, 2011), aber wenig ist eben nicht gar nichts. Die Bundesregierung spricht sich nun für Alltagsmasken aus – zu tragen im öffentlichen Personennahverkehr und beim Einkaufen. Sachsen hat am Freitag als erstes Bundesland eine Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und beim Einkaufen beschlossen.
Die Verantwortung aber dafür, diese in ausreichender Zahl bereitzustellen, gibt die Politik an die Bürger ab.[...]
Wie gut können Hygienekonzepte sein?Egal, wo: Die Minister und die Bundeskanzlerin haben betont, wie wichtig Hygienekonzepte sind. Jede Schule brauche einen Hygieneplan, kleinere Läden bis 800 Quadratmetern Fläche und auch Friseursalons müssten Hygieneauflagen befolgen. Erst dann könnten sie wieder öffnen. Welche Auflagen das sein werden und wie das konkret aussehen soll, ist noch nicht definiert. Fest steht: Ein Hygienekonzept, das funktioniert und zugleich für jeden umsetzbar ist, ist schwer zu entwickeln.
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Aber ist es klug, diejenigen in die Verantwortung zu nehmen, die gerade um ihre Existenz kämpfen? Wie gut können Gesundheitsämter kontrollieren, ob regelmäßig desinfiziert wird, Kundinnen nur einzeln reingelassen werden, Abstandslinien auf dem Boden sind oder wirklich permanent Schutzkleidung getragen wird? Was Auflagen bringen, die vielleicht weder eingehalten noch kontrolliert werden, ist fraglich.
Sollten das nicht Profis machen?Manches sei kaum mit der Realität vereinbar, sagt der Krankenhaushygieniker Andreas Podbielski.
Wenn etwa Grundschüler zuerst in die Schule sollen, aber nur, sofern sie Hände waschen, Masken tragen und Abstand halten. Wenn man unrealistische Forderungen stelle, sei "der Regelbruch programmiert", sagt Podbielski. Lehrerinnen und Erzieher sehen es ähnlich. Auch Laura Pooth, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), sagt: "Wie sollen Grundschüler die Abstandsregeln einhalten? Das wird nicht funktionieren."
Wer eine kaum zu erfüllende Regel bricht, werde häufig auch weitere brechen. "Diesen psychologischen Effekt muss man bedenken: die Latte nicht zu hoch zu legen, sonst tauchen sehr viele darunter weg", sagt Podbielski. [...]
Schulen öffnen, Kitas nicht – ist das sinnvoll?Dass geschlossene Schulen und Kindertagesstätten Epidemien eindämmen können, weiß man von der Influenza. Das zeigte sich zum Beispiel während der Grippe-Pandemie im Jahr 2009 (Public Health England, 2014, PDF).
Nun ist Covid-19 aber keine Grippe. Die neue Krankheit betrifft Kinder kaum – und deutlich weniger als eine Influenza, an der Kinder statistisch gesehen öfter erkranken als Erwachsene (BMC Infectious Diseases: Jayasundara et al., 2014). Ob die Erfahrung also übertragbar ist auf den Corona-Ausbruch, ist unklar.
Übertragen können Kinder das Coronavirus aber sehr wohl. Weil sie meist nur milde bis gar keine Symptome haben, selbst wenn sie infiziert sind, können sie unbemerkt Familienmitglieder anstecken. Ob dieser Effekt sie zu besonderen Virenschleudern dieser Pandemie macht, dazu gibt es bisher keine Daten. Erste Modellstudien lassen vermuten, dass Schul- und Kitaschließungen derzeit weniger ausrichten als das konsequente Aufspüren von Infizierten und die Heimquarantäne. Angesichts der gravierenden Folgen für Kinder und Familien ist die schrittweise Öffnung der Schulen also vielleicht vertretbar.
Auf die Corona-App setzen, bevor sie fertig ist?[...]
Die digitale Unterstützung ist so gedacht: Menschen sollen sich die App – sobald sie verfügbar ist – herunterladen, Bluetooth einschalten und würden dann gewarnt, wenn sich herausstellt, dass sie kürzlich in der Nähe eines Corona-Infizierten waren. Sie könnten sich dann in Quarantäne begeben, bevor Symptome beginnen – und weitere Ansteckungen vermeiden. IT-Experten bewerten den Ansatz positiv (wie die App genau funktionieren könnte, lesen Sie hier).
Doch es gibt auch Kritik: Verpflichtend einführen sollte man die App mit Blick auf die Grundrechte auf keinen Fall.
Basiert sie aber auf Freiwilligkeit, wie bisher geplant, müssten Schätzungen zufolge etwa 60 bis 70 Prozent der Menschen sie herunterladen. Ansonsten reichen die Daten nicht, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Die Bluetooth-Technologie gilt auch als nicht sonderlich zuverlässig, weil die Signale mal über mehrere Meter, mal nur über kurze Distanzen reichen können. Und sie können schnell gestört werden. Menschen würden also vielleicht teils nicht gewarnt – oder zu häufig. Häufiger Fehlalarm könnte dazu führen, dass die Warnung nicht mehr ernst genommen wird.Der Softwareentwickler Henning Tillmann warnt daher vor zu hohen Erwartungen:
Eine Corona-App dürfe niemals Voraussetzung für eine Lockerung der Kontaktbeschränkungen sein,[...].
Denn ob die App helfe, werde man frühestens im Sommer wissen. Interessant werde sie vielleicht erst, wenn die Ausbreitung schon gut unter Kontrolle sei.
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Mehr dazu unter der Quelle:https://www.msn.com/de-de/nachrichten/c ... li=BBqg6Q9Studien zum Artikel finden Sie hier: Kleiner Tipp am Rande: Verwenden Sie den Google Chrome-Browser und stellen Sie sich den Google Translator auf "Englisch immer übersetzen" ein, wenn sie wissenschaftliches Englisch nicht so gut verstehen. So erhalten Sie mittlerweile recht gute Übersetzungen der englisch abgefassten Originale (mit Ausnahme derer im PDF-Format) automatisch in Sekundenschnelle, ohne etwas tun zu müssen (Jama: Bourouib, 2020):
https://jamanetwork.com/journals/jama/f ... le/2763852 (Journal of Fluid Mechanics: Bourouiba et al., 2014):
https://www.cambridge.org/core/journals ... 76DB7A7446(Journal of the Royal Society Interface: Lai, Poon, Cheung, 2011):
https://royalsocietypublishing.org/doi/ ... .2011.0537(Public Health England, 2014, PDF):
https://assets.publishing.service.gov.u ... review.pdf(BMC Infectious Diseases: Jayasundara et al., 2014):
https://bmcinfectdis.biomedcentral.com/ ... 014-0670-5