„Wir sterben an Hunger oder an Krebs“, sagen die Menschen im italienischen Tarent. Dort steht das größte Stahlwerk Europas. In der Gegend ist es der wichtigste Arbeitgeber – und Grund schwerer Umweltverschmutzung. Die Regierung will eine Schließung verhindern.
Das Werk gilt als größtes seiner Art in Europa – und als die größte Dreckschleuder des Kontinents. Nahe den Wohnblöcken häufen sich riesige Halden mit allen möglichen Mineralien, die ein Stahlwerk und seine Kokerei brauchen.
Tarent ist in eine Existenzkrise gestürzt. Oder: Es hat sie nach Jahrzehnten der Verdrängung erstmals wahrgenommen. Schuld daran sind Staatsanwalt Franco Sebastio und Untersuchungsrichterin Patrizia Todisco. Vor elf Monaten haben sie den zentralen Teil, die „Heiß-Verarbeitung“, des Stahlwerks Ilva beschlagnahmt. Umweltnormen nicht eingehalten, unvertretbare Risiken für Gesundheit und Umwelt geschaffen, Bürger und Behörden „aufs Gröbste getäuscht“, schrieben sie zur Begründung. Praktisch alle Mitglieder der Eigentümerfamilie Riva kamen in Untersuchungshaft oder Hausarrest, Lokalpolitiker wurden festgenommen wegen Bestechlichkeit, wegen Kungelei, wegen Vernachlässigung der Kontroll- und Aufsichtspflicht. Selbst Gewerkschaften, Journalisten und Kirche sollen sich haben kaufen lassen.
Nicht nur 11 500 Ilva-Beschäftigte, auch 8000 Mitarbeiter von Subunternehmen fürchteten auf einmal um ihren Job. Könnte Ilva unter diesen Umständen überhaupt fortbestehen? Und der Industriehafen obendrein, der ohne Industrie keinen Sinn hat?
Es folgte ein Wettrennen zwischen Regierung und Richterin. Weil das fünfzig Jahre alte Stahlwerk der einzige bedeutende Arbeitgeber in dieser entlegenen Ecke des Südens ist und weil Ilva allein mehr als zwei Drittel des italienischen Stahlbedarfs abdeckt, versuchte Rom – per Notgesetz und neuer Umweltauflagen – die Produktion um jeden Preis zu erhalten. Das Werk sei „von strategischer nationaler Bedeutung“, erklärten Mario Montis Technokratenkabinett und das Parlament an Heiligabend 2012. Die Richterin wiederum unterstellte die Firma einigen „Garanten der Justiz“ und zog im Interesse von Gesundheit und Umwelt vors Verfassungsgericht.
Als sie dort scheiterte, gab sie nach monatelangem Widerstreben zwar die Lagerbestände von Ilva zum Verkauf und zur Weiterverarbeitung frei, beschlagnahmte dafür aber 8,1 Milliarden Euro beim Riva-Konzern selbst. Daraufhin traten Vorstand und sämtliche Abteilungsleiter von Ilva zurück. Das Werk produzierte zwar weiter, allerdings ohne Führung. „Die acht Milliarden sind nötig, um die Sanierung des vergifteten Terrains sicherzustellen“, befand die Richterin. „Das Geld fehlt jetzt, um Ilva weiterzuführen und umweltfreundlich zu modernisieren“, kritisieren Gewerkschaften und Arbeitgeber.
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