Die ewige Wahrheitssuche im Fall Amanda Knox
Nach Amanda Knox' Freispruch gilt der Mordfall Meredith Kercher als ungeklärt. Jetzt veröffentlicht der Vater des Opfers seine Erinnerungen an den Prozess gegen den "Engel mit den Eisaugen". Von Nina Trentmann
Wer tötete Meredith Kercher, die britische Studentin? Heute startet der Verkauf des Buches von John Kercher, dem Vater der Ermordeten. Für den vermeintlichen Mord an ihrer Kommilitonin ging die Amerikanerin Amanda Knox, bekannt als der "Engel mit den Eisaugen", für knapp vier Jahre ins Gefängnis, 2011 wurde sie freigelassen.
Nun beginnt der Kampf um die Deutungshoheit, denn auch Amanda Knox und ihr damals mitangeklagter Ex-Freund schreiben an einem Buch.
Die Daily Mail, eines der britischen Boulevard-Blätter, druckt derweil seit Tagen Teile aus "Meredith: Der Mord an unserer Tochter und die herzzerreißende Suche nach der Wahrheit". Kercher beschreibt darin die schreckliche Entdeckung, die die Polizei am 1. November 2007 in einem Appartement in der italienischen Stadt Perugia machte, wo seine Tochter mit Amanda Knox und deren Freund Raffaele Sollecito studierte:
"Auf sie (die Polizei) wartete ein fürchterlicher Anblick: Blut an den Wänden und auf dem Boden, einer von Merediths Füßen, der unter einer Decke hervorschaute. Die Leiterin der Mordkommission, war geschockt von den Wunden, insbesondere dem brutalen Schnitt durch die Kehle."
Nur wenige Wochen vor ihrem Tod hatte Kercher seine Tochter in London getroffen, wo sie Winterkleidung besorgen wollte – und von ihrer fast verzweifelten Suche nach einer dickeren Decke berichtete. Die Decke, die sie damals kaufte, war die, unter der die Ermittler ihre Leiche fanden.
Kritik an der Stilisierung von Amanda KnoxRasch nach dem Mord an der damals 21-Jährigen geriet die Ermittlungsarbeit der italienischen Polizei in die Kritik, Gutachter wiesen ihr 54 Ermittlungsfehler nach. John Kercher reiste im Sommer 2009 mit seiner Ex-Frau und seiner zweiten Tochter Stephanie zum Prozess nach Perugia.
"Als wir dort saßen, gab es große Diskussionen – wie Meredith gestorben war, welches Messer benutzt worden war, in welcher Position sie bei ihrem Tod war, ob sie sich gegen ihren Angreifer gewehrt hatte oder nicht. Es war unglaublich hart, dieser Schilderung der letzten Momente im Leben von Meredith zuzuhören; ich habe versucht, diese schrecklichen Details nicht an mich heran zu lassen. Wir sind bald danach wieder gefahren. Es gab nichts mehr für ins Perugia zu tun – dort, wohin meine Tochter gereist war, um zu sterben."
Dem Vater des Mordopfers setzte dem Buch zufolge vor allem die öffentliche Debatte um Amanda Knox in den USA zu. "Die Art und Weise, mit der Knox in ihrer Zeit im Gefängnis einen Fast-Berühmtheitsstatus erlangte, regte mich mehr und mehr auf", schreibt Merediths Vater.
Kercher, ein früherer Journalist, kritisiert auch die Medien für die Stilisierung von Knox: "Die Medien haben sich während des gesamten Prozesses fast nur auf Amanda Knox konzentriert. Es scheint, als sei Meredith einfach vergessen worden."
Kerchers Sprache ist an vielen Stellen emotional, er springt vom Präsens in die Vergangenheit und zurück. Die Schilderung der Todesnachricht gleicht der in einem Kriminalroman – nur, dass es sich hier die Realität, nicht Fiktion handelt:
"Mir fällt das Telefon aus der Hand. Ich kann es nicht glauben. Das muss ein Fehler sein. Ich weigere mich, die Fakten an mich heran zu lassen. Ich wiederhole es wieder und wieder: 'Nicht meine schöne Meredith, nicht meine schöne Meredith… ' Ich bin betäubt vom Schock und kann nicht einmal weinen."
Ist Rudy Guede der Täter?Es ist nicht nur die Geschichte eines trauernden Vaters, sondern auch die eines bis heute ungeklärten Mordes. Während Amanda Knox inzwischen Hauptfigur eines Kinofilms – "Der Engel mit den Eisaugen" – ist und an ihrer Version der Geschichte schreibt, sucht die italienische Justiz weiter nach dem oder den Schuldigen.
War es Rudy Guede, der Afrikaner, dessen DNA auf und in Meredith Kercher gefunden wurde und der wegen sexuellen Missbrauchs und Mordes zu zunächst 30, später 16 Jahren Haft verurteilt wurde?
Das Buch von Amanda Knox soll im Herbst von Harper Collins verlegt werden, Berichten zufolge erhält die Amerikanerin über vier Millionen Dollar für die Memoiren. Über 20 Verleger hatten um sie geworben. Einen Teil des Erlöses wird Knox zum Schuldentilgen verwenden müssen: Auf über eine Million Dollar belaufen sich die Verpflichtungen der Familie nach dem Gerichtsprozess.
Bei der Urteilsverkündung im Dezember 2009 verspürte John Kercher seinen Aufzeichnungen zufolge keine Freude, als Amanda Knox und Raffaele Sollecito zu 26 beziehungsweise 25 Jahren Gefängnis verurteilt wurden. "Knox war zerknautscht und weinte und obwohl ich glaubte, dass Gerechtigkeit geschehen war, war es kein erfreulicher Anblick. Ich fühlte keinerlei Euphorie."
Eine ewige WahrheitssucheÜber zwei Jahre vergingen, bis das Gericht in Perugia über die Berufung entschied – Jahre, in denen der "Tunnel der Trauer" für Kercher und seine Familie immer länger wurde. Während seine Ex-Frau und Tochter erneut nach Perugia reisten, blieb Kercher zu Hause und sah sich einen Livestream der Berufungsverhandlung an, in der Küche, mit Freunden.
"Es danach kam der richtige Paukenschlag", schreibt Kercher. "Ich saß Hunderte von Meilen entfernt, mit offenem Mund. Es war atemberaubend zu hören, dass sie (Knox und Sollecito) von jeder Schuld an Merediths Tod freigesprochen wurden."
Wer das hübsche braunhaarige Mädchen, das seit dem Kleinkindalter Ballett tanzte, ermordet hatte, rückte in den Hintergrund, als Amanda Knox 2011 triumphierend in ihr Heimatland zurückkehrte. "Die Welt sorgte sich um Gerechtigkeit für Knox und Sollecito. Wer sorgte sich um Gerechtigkeit für die arme Meredith?" fragt ihr Vater.
Derzeit läuft die Berufung der Staatsanwaltschaft, der Supreme Court in Rom wird sich bald des Falles annehmen. Vater eine Richtung. "Sollte der Supreme Court an der Anklage festhalten, könnte er um ihre (Knox) erneute Auslieferung nach Italien bitten", schreibt Kercher. "Zwischen den beiden Ländern existiert ein Auslieferungsvertrag." Hofft der Vater darauf? Die Frage bleibt vorerst unbeantwortet, spricht John Kercher doch ausschließlich mit der "Daily Mail" über den Tod seiner Tochter.
Kercher sucht weiter nach der Wahrheit, obwohl er weiß, dass er lange – vielleicht sogar für immer – darauf warten muss, zu erfahren, wer in der Nacht zum 1. November 2007 seine "geliebte Meredith" ermordete.
"Meredith: Our Daughter’s Murder And The Heartbreaking Quest For The Truth", ist heute bei Hodder&Stoughton erschienen. Die englische Fassung kostet 16,99 Pfund.
http://www.welt.de/vermischtes/weltgesc ... -Knox.html